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ÜBER DIE KRAFT DER NUANCEN UND DIE NOTWENDIGKEIT DER ZÄRTLICHKEIT. EIN (T)RAUM

In dieser Fotoserie versuche ich, eine (Traum-)Welt zu zeigen, in der das männliche Subjekt abwesend ist. Ohne politische Inhalte zu propagieren, möchte ich zwischenmenschliche Momente und Dynamiken als nicht wertende Beobachterin ermöglichen und einfangen. Momente, die zwischen Intimität und spielerischer Unbeschwertheit verweilen, ohne dabei in klischeehafte Muster zu verfallen. Diese filigrane Atmosphäre erhält eine Standhaftigkeit, die jedoch nicht aufdringlich ist, sondern die (gegenseitige und Selbst-)Emanzipation der Subjekte hervorhebt.

 

Die schlichte Zeitlosigkeit soll dem Spiel der Bewegungen und Kompositionen den Vortritt lassen. Es ist ein Versuch, den eigenen, so genannten inneren männlichen Zuschauer („internalized male gaze“ – Mechanismus zur Aufrechterhaltung der patriarchalischen Macht) zu überwinden.

 

Diesem entgegengesetzt zu handeln genügt nicht, denn auch so werden Entscheidungen von ihm abhängig gemacht. Die Serie ist ein Ausdruck eines Wunsches. Meinem Wunsch nach Befreitsein von Strukturen und Denkmustern, die uns alle unterdrücken.Der nackte (in diesem Fall weiblich gelesene) Körper einer Person, frei von u.a. einem sexualisierten Blick, soll zeigen, wie schön es sein kann. Die Überwindung des male gaze erschließt den Zugang zu Authentizität, zu einer eigenen Dynamik und zur eigenen Kraft.

 

Auf der Suche

Authentisch sein, das bedeutet sich als echt zu empfinden und auch von anderen so gesehen zu werden. Authentizität bedeutet, dem treu zu bleiben, was man ist und sich nicht äußeren Erwartungen oder Zwängen anzupassen. Doch wie kann das aussehen, wenn so viele Dinge von außen bestimmt werden, wenn diese äußeren Mechanismen so stark sind, so kompromisslos und so ungefragt implementiert werden, dass sie in das eigene Innere übergegangen sind? Wo verläuft die Grenze zwischen dem, wie man ist, und dem, was man gelernt hat sein zu müssen/wollen? Kann man das überhaupt trennen? Eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen erfordert die Bereitschaft verletzlich zu sein, erfordert Raum, machtfreien Raum. Raum für Träume und Visionen.

Über den männlichen Blick

Im Zuge der Vertiefung dieser Thematik ist mir klar geworden, was, unter anderem, Geschlechterungleichheit und der sogenannte „männliche Blick“ („male gaze“) für eine maßgebliche Rolle spielen.Der Begriff „male gaze“ wurde erstmals von der feministischen Filmtheoretikerin Laura Mulvey 1975 in ihrem Aufsatz „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ eingeführt. Er bezieht sich auf die Art und Weise, in der visuelle Medien wie Film, Werbung und Fotografie oft aus einer heterosexuellen männlichen Perspektive geschaffen und konsumiert werden.

 

Der männliche Blick objektiviert, sexualisiert und erniedrigt Personen die als weiblich gelesen werden und stellt sie als passive Objekte des männlichen Begehrens dar, die meistens einen bestimmten Zweck erfüllen sollen, statt als eigenständige, komplexe Individuen mit eigenen Wünschen und Handlungsmacht.Er ist ein allgegenwärtiges kulturelles Phänomen, das von Menschen aller Geschlechter verinnerlicht und reproduziert wird. Das liegt daran, dass der männliche Blick nicht nur eine individuelle Wahrnehmung, sondern ein breiteres kulturelles Konstrukt ist, das geschlechtsspezifische Machtdynamiken und Hierarchien widerspiegelt und verstärkt und somit nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes verheerend ist. Um den (verinnerlichten) männlichen Blick in Frage zu stellen und ihm die Macht zu entziehen, bedarf es eines Verlernens, eines Wandels der Einstellungen und Werte sowie einer kritischen Auseinandersetzung mit den Medien und der Kultur, die diese abträglichen Normen aufrechterhalten.

 

Ein essenzieller Teil dieses „Verlernungsprozesses“ ist die Förderung von Empathie und Verständnis, da diese dazu beitragen, gefährliche Stereotypen und Einstellungen die dem männlichen Blick zugrunde liegen, abzubauen. Wie auch der Titel meiner Arbeit vermuten lässt, spielt das Wertlegen auf Nuancen und Zärtlichkeit eine entscheidende Rolle. Nuancen verleihen dem Verständnis eines Themas oder einer Situation Tiefe, Komplexität und Subtilität und ermöglichen somit, die verschiedenen Bedeutungsschattierungen, Absichten und Emotionen zu erkennen. Zärtlichkeit ist ein notwendiger Bestandteil der menschlichen Verbindung, des Einfühlungsvermögens, der Heilung und der Selbstfürsorge und ein wirkungsvolles Instrument, das uns helfen kann, gesunde und sinnvolle Beziehungen aufzubauen und unsere emotionale Widerstandsfähigkeit und unser Wohlbefinden zu fördern – in der Betrachtung und im Umgang.

 

Dies spiegelt sich sowohl wortwörtlich, als auch metaphorisch in meinen Fotos wider.Wichtig finde ich auch zu sagen, dass in meinen Augen eine Antihaltung, eine gegenteilige Praxis nicht ausreichend bzw. nicht zielführend sein kann, da diese binäre Betrachtung dann wieder innerhalb des bestehenden binären Systems bestünde und somit unumgänglich in einer Abhängigkeit zu dem steht, was abgelehnt wird. Die Abhängigkeit ist, was es auszuräumen gilt. Was so lange gelernt wurde, muss verlernt werden. Mich zu fragen aus welchen Gründen ich bestimmte Dinge tue und denke und dabei ehrlich zu mir selbst zu sein und meine eigene Position zu hinterfragen, hat mir persönlich geholfen, Mechanismen besser zu verstehen und Position zu beziehen.

 

Ich bin eine Cis-Frau im feministischen Kampf. Ich verorte mich selbst nicht außerhalb der binären Geschlechterrollen, will jedoch alle Geschlechter miteinbeziehen, gleichzeitig aber nicht für andere sprechen. Wenn dies einmal geschehen ist, befinden wir uns hoffentlich in einer fruchtbaren Art von Chaos, das uns eine Neuorientierung erlaubt und Ideen zulässt, die jetzt womöglich als schwer vorstellbar erscheinen. Eigenschaften und Bereiche die oft als „weiblich“ beschrieben werden, wie zum Beispiel Verständnis, Rücksicht, Feinfühligkeit, Pflege, Achtung, Gnade, Milde, Friedfertigkeit, Kompromissbereitschaft und emotionale Arbeit, werden häufig als Schwächen ausgelegt im Gegensatz zu ihren „männlichen“ Gegenspielern bzw. an Personen anderen Geschlechts anders bewertet als an Personen männlichen Geschlechts. Oder sie werden als Selbstverständlichkeit gesehen und darum nicht wertgeschätzt oder gar nicht oder kaum bezahlt.

 

Berufe, die weiblich dominiert sind, werden nicht gleichermaßen ernst genommen, gewertet und entlohnt wie die männlich verstandenen Bereiche.Um dem entgegenzuwirken und die Kraft dieser „weiblichen“ Eigenschaften herauszuheben, zeige ich solche Eigenschaften sowohl in meiner Sprache als auch in meinen Fotos.

Hoffnung

Mein ganzer Zugang ist einer, der die Komplexität der Dinge wahren will. Einer, der zeigt, dass genau in dieser Feinfühligkeit unheimlich viel Kraft liegt. Wenn sich ein System verändern soll, müssen alle sich darin befindenden Parteien bereit sein, sich zu bewegen. Konkret bedeutet das auch, die eigene Position und das eigene Verhalten zu hinterfragen. Ein Raum zwischen Realität und Traum. In der Hoffnung, dass es irgendwann nur noch Realität ist. Ein Raum, frei von Zynismus, in dem es möglich ist, sich sowohl den eigenen als auch den Bewegungen der Wellen hinzugeben. Sich frei von Ungerechtigkeit, verbunden mit sich selbst, authentisch.

© 2024 Sarah Raffaela Jackel

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